Leseprobe "Federohr und Flitzepfote 5 - Der blaue Geist

Flumm flog schneller. Auf der Suche nach süßen Beeren waren Tuff und er am Seeufer entlanggezogen. Dieses Mal waren sie lange vor der Abenddämmerung aufgebrochen, denn am Waldrand konnten sie jederzeit in den Schutz der Bäume fliehen. Doch nun befanden sie sich weit entfernt von vertrauten Baumhöhlen und Schlafbäumen, auf denen sich Flumm mit anderen Eulen hätte zusammendrängen können.
   Ein greller Blitz zuckte am Himmel, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnerschlag.
   Bunte Schemen schwebten vor Flumms Augen. Orientierungslos streifte er Blätter und Zweige, während unter ihm die Mütze wild hin und her schwang. Tuff rief etwas, aber seine Worte gingen im Rumpeln des Donners unter.
   Langsam sah Flumm wieder klarer. »Tuff, wir brauchen Schutz!«, rief er. »Kennst du dich in diesem Teil des Waldes aus?«
   »Nein!«, rief Tuff zurück. »Die meisten Baumhöhlen sind ohnehin schon besetzt und du bist ziemlich groß. Lass uns einen dicht belaubten Baum finden!«
   Erneut zuckte ein Blitz am Himmel. Für einen Atemzug hing jedes Blatt, jeder Zweig wie erstarrt in gleißendem Licht. Als würde der gesamte Wald zu Stein …
   Stein!
   Flumm sah sich um. Ganz in der Nähe mussten die Felsentürme sein! Auf einem dieser hohen Felsen hatte er gesessen, als er den Mondregenbogen entdeckt hatte.
   Abrupt machte er kehrt und stieg höher.
   »Was tust du?«, rief Tuff.
   »Die Felsentürme im Wald! Sie sind ganz nah! Dort können wir uns unterstellen.«
   Die Mütze unter ihm wackelte. »Nein! Nicht dorthin!«
   »Wieso nicht?«
   »Der blaue Geist!«
   »Der … was?«
   »Der Geist! Er haust in den Felsentürmen! Hast du nichts davon gehört? Die Geräusche in der Nacht? Die unheimliche blaue Gestalt?«
   Eine Böe wehte Flumm zur Seite. Er hatte Mühe, die pendelnde Mütze unter Kontrolle zu bringen. Schon prasselten erste Regentropfen auf das Blätterdach und manche zerplatzten auf Flumms Kopf.
   Huh! Wie kalt sie sind! Wie flüssiges Eis!
   »Tuff!«, rief Flumm. »Hast du den Geist selbst gesehen?«
   »Was? Nein! Ich habe nur …«
   »Hast du ihn gehört?«
   »Nein! Aber andere haben ihn gehört!«
   »Welche anderen?«
   »Ich weiß es nicht! Andere Hörnchen!«
   Eine weitere Böe fuhr in den Wald und drückte Büsche und Bäume zur Seite. Ein abgerissenes Eichenblatt wehte in Flumms Gesicht und wirbelte über ihm davon.
   »Fressen Geister Eulen oder Hörnchen?«, rief er gegen den Wind.
   »Was hast du gesagt?«, schrie Tuff hinauf.
   Der Regen wurde immer stärker. Dicke Tropfen rauschten vom Himmel und nahmen Flumm die Sicht. Endlich kamen hinter der Regenwand dunkle Felsen zum Vorschein. Zerklüftet und nass glänzend ragten sie hinauf in die Baumkronen. Bei schönem Wetter kletterten Menschen an den steinernen Wänden, weswegen die meisten Waldtiere diese Gegend mieden.
   Flumm zögerte.
   Ein Geist?
   War es nur eine Geschichte, wie sie Huhbert und Hootelia erzählt hatten, als er noch im Nest saß? Oder war dieser Geist echt? Und würde er ihnen etwas tun?
   Die kalten Tropfen klatschten in Flumms Gesicht und durchweichten seine Federn. Die Mütze saugte sich mit Wasser voll und wurde schwer. Auch sein Freund musste inzwischen patschnass sein.
   »Flumm! Wo willst du hin?«, rief Tuff hinauf. »Nicht hierher, hier spukt der Geis–«
   Ein ohrenbetäubender Knall zerriss den Wald. Alles war blendend weiß. Ein Kribbeln lief durch Flumms Körper bis hinunter in seine Flügelspitzen.
   Tuff quiekte.
   Neben ihnen erklang ein einzelnes Pöck. Noch eines. Ein weiteres. Pöck. Pöck-Pöck! Immer mehr Hagelkörner stürzten vom Himmel, brachen durch das Blätterdach und sprangen von Ästen und Zweigen.
   Ein eisiges Korn landete auf Flumms Kopf. »Autsch!«
   Pöck-Pöck. Pöck-Pöck-Pöck!
   Mit einmal war die Luft erfüllt von ohrenbetäubendem Trommeln. Abgerissene Blätter und Zweige segelten hinab.
   »Uäk!«, kreischte Flumm.
   So schnell er konnte, flog er auf die Felsentürme zu. Hagelkörner prallten von seinen Flügeln ab und federten hoch in die Luft. Immer größer wurden die eisigen Bälle, die auf sie herabstürzten.
   Flumm keuchte vor Anstrengung. Tuff schrie etwas, aber in all dem Geprassel konnte er ihn nicht verstehen. Vermutlich wollte er ihn davon abhalten, zu den Felsentürmen zu fliegen, aber Flumm hatte sich entschieden: Wenn er die Wahl hatte, zwischen einem Hagelsturm und einem Geist, wollte er es lieber mit einem Geist aufnehmen!

 

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